Vineta
Die versunkene Stadt vor Koserow
Vineta Sage
Am Morgen des Ostersonntags wachte ein Hirtenknabe über seine Herde in der Nähe des Strandes. Als er die Ostsee ansah, die in der Sonneneinstrahlung friedlich schimmerte, erhob sich plötzlich eine alte, ehrwürdige Stadt aus dem Wasser. Direkt vor ihm öffnete sich das reich verzierte Tor in der Mauer. Er war erstaunt und beinahe geblendet von dieser Illusion. Auf der Stelle sprang er auf und ging neugierig hinein. Die Wächter, bärtige Männer mit Spießen und Hellebarden, ließen ihn ohne Widerstand passieren, und plötzlich fand er sich inmitten von Menschen, die in altertümlicher, doch prächtiger Kleidung gekleidet waren. Die Männer trugen lange, mit Pelz besetzte Mäntel und mit Federn geschmückte Barette. Die Frauen waren gekleidet in Samt und Seide und trugen schwere Goldketten, besetzt mit edlen Steinen, um ihren Hals. Die Straßen der Stadt waren von unglaublicher Pracht. Jedes Haus war prächtiger als das andere, mit Fenstern aus vielfarbigem Glas, Säulen aus weißem Marmor und Alabaster, reich verzierten Giebeln und ihre vergoldeten Ziegelfassaden erfüllten die Straßen mit strahlendem Glanz. Von den Dächern funkelte reines Gold.
Der Junge lief hastig auf und ab, er fühlte sich unwohl, denn alles in dieser merkwürdigen Stadt war ohne den kleinsten Laut. Silent bewegten sich die Menschen auf den Straßen, stumm sammelten sie ihre Sachen auf dem Markt, wo die Händler ihre Waren ausstellten und stumm ihre Ballen aus glänzendem Samt, leuchtender Seide oder feinster Spitze ausrollten. Dazu gab es weiche Decken und schwere Teppiche. Vor Erstaunen blieb der Junge stehen. Ein Händler winkte ihm zu und als er vorbeiging, winkte er wieder und lachte aufmunternd, breitete einen prächtigen Stoff aus und bot ihn dem Jungen an. Doch der schüttelte den Kopf. Wo sollte er, ein armer Hirtenknabe, Geld herbekommen, um etwas zu kaufen? Jetzt aber begannen auch die anderen Händler, ihm zuzuwinken. Sie holten ihre schönsten Sachen hervor, um sie ihm anzubieten. Was sollte er nur tun? Er streckte ihnen beide leeren Hände entgegen. Nun mussten sie doch verstehen, dass er nichts hatte. Der Händler zeigte ihm eine kleine Münze und deutete auf seinen Tisch voller Waren. Der Junge durchsuchte alle Taschen seines alten Anzugs. Aber er wusste, dass er nicht einen einzigen Penny hatte. Traurig und enttäuscht sahen ihm alle zu.
Da lief er schnell durch die Straßen und durch das hohe Tor zurück zum Strand und zu seinen Schafen. Als er sich umdrehte, funkelte vor ihm nur wieder das Meer in der Sonne und nichts war mehr zu sehen von der schönen alten Stadt, von Pracht und Glanz. Stillschweigend, so wie sie aufgestiegen war, war sie wieder in den Fluten versunken. Nachdenklich und betrübt saß der Junge noch am Strand, als ein alter Fischer vorbeikam, sich zu ihm setzte und ihn ansprach: „Hör zu, wenn du am Sonntag geboren wurdest, dann kannst du heute, am Ostermorgen, die Stadt Vineta aus dem Meer auftauchen sehen, die hier vor vielen, vielen Jahren untergegangen ist.“ „Oh, ich habe sie gesehen!“ rief der Junge und erzählte dem alten Mann von seinem Erlebnis und dass die Stadt dann gleich wieder verschwunden war.Der Fischer nickte nachdenklich und begann zu erzählen, was er von Vineta gelernt hatte: „Siehst du, wenn du auch nur einen Pfennig gehabt hättest und damit hättest bezahlen können, wäre Vineta gerettet worden und die ganze Stadt mit allem, was in ihr ist, wäre an der Oberfläche geblieben. Diese Stadt, Vineta, war einst größer als jede andere Stadt in Europa, größer sogar als die sicherlich sehr große und schöne Stadt Konstantinopel. Ihre Bewohner waren unermesslich reich, da sie Handel mit allen Völkern der Erde trieben und ihre Schiffe aus allen Teilen der Welt die schönsten und wertvollsten Waren brachten. Ihre Stadttore waren aus Bronze und die Glocken aus Silber, was so gewöhnlich war, dass die einfachsten Dinge daraus gemacht wurden und die Kinder auf der Straße sogar mit Silbertalern Pfennigpfand spielten.
Mit dem zunehmenden Reichtum in Vineta fielen die Bewohner jedoch zunehmend dem Hochmut und der Verschwendung zum Opfer. Bei den Mahlzeiten aßen sie nur die erlesensten Speisen und tranken ihren Wein aus Bechern aus reinem Silber oder Gold. Sie beschlugen auch die Hufe ihrer Pferde nur mit Silber oder Gold statt mit Eisen und ließen sogar die Schweine aus goldenen Trögen fressen. Löcher in den Wänden der Häuser stopften sie mit Brot oder Brötchen. Drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor dem Untergang der Stadt erschien sie über dem Meer mit allen Häusern, Türmen und Mauern als ein klares, farbiges Luftbild. Daraufhin ermutigten alte, erfahrene Bewohner alle Menschen, die Stadt zu verlassen. Denn wenn man Städte, Schiffe oder Menschen doppelt sieht, bedeutet das immer den sicheren Untergang. Aber man nahm diese Warnungen nicht ernst und verlachte sie nur.
Einige Wochen später tauchte eine Wasserfrau direkt vor der Stadt aus dem Meer auf und rief dreimal mit hoher, gruseliger Stimme, die laut in den Straßen widerhallte: „Vineta, Vineta, du stolze Stadt, Vineta soll untergehen, weil sie so viel Böses getan hat“. Aber auch das wurde ignoriert, alle lebten weiter in Saus und Braus, bis das Strafgericht sie ereilte.
In einer stürmischen Novembernacht brach eine furchtbare Sturmflut über die Stadt herein. Im Nu durchflutete die riesige Woge die Straßen und Gassen. Das Wasser stieg und stieg, bis es alle Häuser und Menschen unter sich begrub.
“Dass man Vineta retten kann, wenn es alle hundert Jahre am Ostermorgen aus dem Meer auftaucht, hast du ja schon erfahren und erlebt, auch wenn es dir nicht gelungen ist. Wissen sollst du auch, dass die silbernen Glocken der versunkenen Stadt am Johannistag zur Mittagsstunde aus der Tiefe klingen, dass aber jeder, der ihren dumpfen, traurigen Tönen lauscht, schnell weitergehen muss. Denn sonst wird er von ihrem Klang unwiderstehlich angezogen und folgt ihm, bis er selbst dort unten ruht.“
Vineta – historische Quellen
Die wohlhabende Stadt Vineta tauchte erstmals in historischen Dokumenten aus dem Jahr 965 auf, genannt von einem Gesandten des Kalifs von Córdoba. Über hundert Jahre später, zwischen 1075 und 1080, beschrieb Adam von Bremen einen Seehafen östlich des Erzbistums Hamburg, der in ältesten Aufzeichnungen als vimne oder uimne und in neueren Abschriften als Jumne, Julinum und Juminem bezeichnet wurde. Die Vermutung besteht, dass die Stelle auf einer Insel an der Mündung der Oder in die Ostsee lag, bewohnt von Slawen, Barbaren und Griechen. Die Stadt soll groß und sehr reich gewesen sein, und eine Fülle von Waren wurde dort gehandelt, sogar die Sachsen gingen dort Handelsgeschäften nach. Es wird berichtet, dass auch Harald Blauzahn, König von Dänemark und Norwegen, dort Zuflucht suchte. In der Mitte des 12. Jahrhunderts wurde der Name Julin für eine frühe Stadt auf der Insel Wollin verwendet, wo sich heute der Ort Wollin befindet. In Kopien der Schriften von Adam von Bremen aus den 1160er Jahren änderte sich die Schreibweise von uineta zunächst zu iumenta oder iumneta und in neueren Kopien zu Jumneta; in der Kapitelüberschrift aller überlieferten Handschriften war jedoch Vinneta zu lesen.
Um 1170 berichtete eine nordische Saga von der Belagerung der Jomsburg während einer von König Waldemar I. von Dänemark geführten Kampagne. Die gleiche Kampagne und der Aufenthalt von Harald Blauzahn wurden gegen 1190 von Saxo Grammaticus erwähnt, der den genannten Ort als Julin(um) bezeichnete.
Danach gibt es seltsamerweise keine weiteren Berichte über die reiche Stadt. Es ist möglich, dass sie tatsächlich in der Ostsee versunken ist. Oder die Aufzeichnungen im Landesarchiv Mecklenburg-Vorpommern, nach denen Vineta von einer Flotte dänischer Kriegsschiffe angegriffen und zerstört wurde, könnten doch zutreffen. Jedenfalls zog der Ort schon früh viele Menschen in seinen Bann. So wird seit dem 16. Jahrhundert nach ihm gesucht, auf schwedischen Landkarten des Landesarchivs aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg ist er verzeichnet. Wo genau Vineta lag, falls es tatsächlich existierte, ist jedoch ungewiss, und es gibt an der Ostseeküste viele Orte mit Vineta-Straßen, eine Vineta-Apotheke, ein Vineta-Riff und sogar einen Vineta-Ferienpark.
Vinetariff vor Koserow
Ein Historiker und die Sage selbst vermuten, dass Vineta vor Koserow auf Usedom versunken ist.
Auf das Vinetariff vor Koserow schienen alte Kartensignaturen und eine große Zahl großer Steine in geordneten Formationen hinzudeuten. Heute weiß man, dass die Steine nicht auf eine Mole hindeuten, unter anderem da Bearbeitungsspuren fehlen, sondern dort in der Eiszeit abgelagert wurden.
Vineta ist eine Legende wie Atlantis. Sagenumwoben und schön.